«Aktuell kommen wir nicht mehr aus dem Abklären raus – eine bedenkliche Entwicklung»
«Immer mehr Kinder im Vorschul- und Schulalter sind auf Unterstützung angewiesen. In den vergangenen 10 Jahren ist der Bedarf um mindestens 30 Prozent angestiegen. Lehrpersonen empfinden die Situation als zunehmend überfordernd.»
Das sagt Michael von Rhein, Leiter des Bereichs Sonderpädagogik und leitender Arzt in der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich.
Die Fachpersonen der Abteilung klären Kinder ab, die Entwicklungs- oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Etwa die Diagnose ADHS. Oder eine Autismus-Spektrum-Störung. Nebst dem generellen Bedarf an Unterstützung hat gerade auch die Anzahl an Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung deutlich zugenommen, so von Rhein.
Über die Gründe für diesen signifikanten Anstieg kann von Rhein nur spekulieren. Der Mediziner erwähnt die Früherfassung, die möglicherweise besser funktioniert. «Vielleicht hat man diese Kinder mit besonderen Bedürfnissen vor zehn, zwanzig Jahren weniger wahrgenommen.»
Eine weitere Erklärung könnte die Covid-19-Pandemie sein. «Kinder hatten da möglicherweise weniger Lern- und Austauschgelegenheiten.» Einen Ausschlag in den Daten stellt von Rhein in den Jahren der Pandemie jedoch nicht fest.
Überbehütete Kinder
Den von Pädiater von Rhein erwähnten Anstieg an Kindern mit Unterstützungsbedarf in den vergangenen zehn Jahren hat auch Esther Denzler feststellen können.
Denzler, seit einem Jahr pensioniert, war über 40 Jahre lang als Primarlehrerin im Kanton Zürich tätig. Zudem war sie als DaZ-Lehrerin (Deutsch als Zweitsprache) und als Heilpädagogin aktiv. Unzählige Kinder hat sie in deren ersten Schuljahren begleitet.
Auch Denzler verfügt über keine belastbaren Daten, welche die Zunahme auf spezifische Gründe zurückführen könnten. Ihr sind über die Jahre aber zahlreiche negative Entwicklungen aufgefallen:
Sie würden weniger Zeit draussen verbringen. Und viele Eltern würden ihre Kinder überbehüten. «Wir hatten Kinder, die jeden Tag mit dem Auto in die Schule gefahren wurden, aus Angst, dass ihnen etwas passieren könnte», erzählt Denzler. Hinzu komme ein schwieriger Umgang mit digitalen Medien.
Denzler stellte im Schulalltag fest, dass sich die Schwierigkeiten der betroffenen Kinder nicht mehr nur auf eine Auffälligkeit beschränken liessen. Oft seien verschiedene Bereiche der Entwicklung tangiert gewesen, sei dies motorisch, sprachlich, kognitiv oder auch emotional. Sie sagt:
Der früheren Primarlehrerin machten im Unterricht jedoch weniger diejenigen Kinder mit einer körperlichen, geistigen oder sprachlichen Beeinträchtigung zu schaffen. Vielmehr waren es jene mit einer Verhaltensauffälligkeit. Denzler führt aus:
Bei Kindern mit ADS oder ADHS bleiben Symptome wie Konzentrationsschwierigkeiten bestehen, sie wachsen nicht aus diesen Verhaltensweisen heraus. Kinder mit ADS oder ADHS können massive Schwierigkeiten in der Schule, zu Hause oder im Umgang mit Mitmenschen zeigen. (Quelle: adhsgruppe.ch)
Schulpsychologische Dienste sind überlastet
Fakt ist: Nicht nur der tatsächliche Unterstützungsbedarf, sondern auch der Wille, ein Kind auf ADHS oder eine andere Störung abzuklären, hat markant zugenommen. Die diesbezüglichen Zuweisungen von Schulkindern an die Abteilung Entwicklungspädiatrie stiegen in den vergangenen Jahren derart stark an, «dass wir das kaum noch bewältigen konnten», sagt Kinderarzt von Rhein.
Diese Tendenz sei nicht nur in Zürich festzustellen, sondern auch an anderen Standorten wie etwa in Winterthur. Bei Problemen in der Schule ist von Rhein deshalb bestrebt, dass betroffene Kinder für eine Erstabklärung zunächst den Schulpsychologischen Dienst aufsuchen. Auch, um unnötige medizinische Abklärungen zu vermeiden.
Die Schulpsychologischen Dienste seien jedoch zunehmend überlastet, erzählt die ehemalige Primarlehrerin Denzler. «Früher konnte ich bei starken Auffälligkeiten eines Kindes den Schulpsychologischen Dienst zu niederschwelligen Beratungen hinzuziehen. Nach einem Klassenbesuch haben wir jeweils die weiteren Schritte besprochen. Heute ist dieses Vorgehen mangels Ressourcen leider beinahe undenkbar.»
Über-Diagnostik
Obwohl eine Diagnostizierung in vielen Fällen wichtig sei, stört sich Kinderarzt von Rhein daran, dass heutzutage oft auch bei Kindern mit leicht auffälligem Verhalten rasch an eine Abklärung gedacht werde.
Er plädiert deshalb dafür, dass Kitas, Kinderärzte und Schulen personell ausreichend ausgestattet werden und Betreuungs- sowie Lehrpersonen dafür ausgebildet sein sollten, ein Spektrum an verschiedenen Kindern auszuhalten. Von Rhein betont:
Allerdings zeige der gesellschaftliche Trend leider in die andere Richtung. Nebst zunehmend verunsicherten Eltern sei die Schule diesbezüglich ein Treiber. Er führt aus: «Im schulischen Kontext kommt es vor, dass es heisst: ‹Dieses Kind funktioniert nicht ganz so, wie wir uns das vorstellen. Bestimmt hat es eine Krankheit oder Störung.›»
Von Rhein setzt sich für den Gegentrend ein: Kinder wieder mehr so anzunehmen, wie sie sind.
«Eine verkürzte Theorie»
Dagmar Rösler ist Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz. Daneben arbeitet sie Teilzeit als Primarlehrerin. Zum Vorwurf, Schulen förderten Abklärungen, sagt sie: «Ich finde das eine etwas verkürzte ‹Theorie›.»
Die Gesellschaft verändere sich stark und mit ihr auch die Kinder. Die Heterogenität in Schulhäusern und Klassen nehme stetig zu. Diese veränderte Ausgangslage führe dazu, dass tatsächlich viele Kinder Hilfe benötigten.
Hinzu komme, dass «Lehrpersonen sich auch nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen möchten, weggeschaut und keine Unterstützung veranlasst zu haben». Rösler betont:
Kinder mit auffälligen Verhaltensweisen habe es schon immer gegeben, sagt die ehemalige Primarlehrerin Denzler. Dass man sie heute ernster nehme, sei eine positive Entwicklung. Sie befürwortet die gestiegene Sensibilisierung, dass die verantwortlichen Personen heute besser hinschauen. Aber auch Denzler sieht ein: «Aktuell kommen wir gar nicht mehr aus dem Abklären raus, das finde ich eine bedenkliche Entwicklung.»
Besonders problematisch sei dabei, dass der Fokus primär auf den erwähnten auffälligen, lauten Kindern liege. Das habe zur Folge, dass ein stilles, introvertiertes Kind mit Entwicklungsstörung unbemerkt bleiben könne.
Wie von Rhein verortet auch Denzler den gestiegenen Abklärungswillen und das Bedürfnis nach einer Diagnose primär bei den Schulen. Allerdings aus einem spezifischen Grund:
Rösler vom Lehrerinnen- und Lehrerdachverband sagt dazu: «Das System verlangt Abklärungen, die zuerst getätigt werden müssen, bevor man Unterstützung erhalten kann.»
«Es braucht mehr Leute»
Könne bei der Abklärung kein eindeutiger Befund (z. B. ein niedriger IQ) festgestellt werden, seien die daraus resultierenden Unterstützungsmöglichkeiten meist sehr beschränkt. Die Lehrpersonen fühlten sich oft im Stich gelassen, sagt Denzler.
Für diese Kinder müsse sich die Klassenlehrperson sehr empathisch und zeitintensiv einsetzen, etwa mit aufwendiger Elternarbeit. Doch auch das habe regelmässig nicht ausgereicht. Sie sagt:
Leute wie Ronja Meier*. Die Primarlehrerin beendete diesen Sommer die berufsbegleitende Ausbildung zur Heilpädagogin und war bereits im Beruf tätig. Aktuell begleitet sie an einer Zürcher Schule sechs Primarschulklassen während je drei Lektionen. Hinzu kommen vier weitere Lektionen für ein Kind mit besonderen Bedürfnissen, das im Rahmen der integrativen Schule Teil einer Regelklasse ist.
Pro Klasse (bis zu 26 Kinder) sind es vier bis sechs Kinder, welche die Unterstützung Meiers benötigen. Auf die Frage, ob dies alleine zu stemmen sei, antwortet die Heilpädagogin ernüchtert: «Nein, nicht wirklich. Ich kann nicht allen Kindern gerecht werden, die Hilfe benötigen.»
Auch seien drei Lektionen pro Klasse generell viel zu wenig. «Kinder auf dieser Stufe haben zehn Lektionen Mathe und Deutsch pro Woche. Was machen sie in den sieben Lektionen, in denen ich abwesend bin?» Diese Frage stelle sie sich immer wieder.
Der Sozialindex
Aktuell ist Meier in einem Zürcher Schulkreis mit sozioökonomisch bessergestellten Familien tätig. Dies führt, verglichen mit anderen Schulkreisen, zu einem höheren Sozialindex. Als Folge davon spricht die Stadt weniger Ressourcen. Für die Heilpädagogin ist dieses System nicht nachvollziehbar. Sie sagt:
Doch die Situation ist, wie sie ist: Weniger Ressourcen bedeuten weniger Lektionen, in denen Heilpädagoginnen zugegen sind. Das sei nicht nur für die betroffenen Kinder ein grosses Problem. «Von der Anwesenheit einer Heilpädagogin oder eines Heilpädagogen profitiert eine ganze Klasse. Durch konkrete Hilfestellungen und weil die jeweilige Lehrperson Aufgaben abgeben und sich den restlichen Kindern besser widmen kann.»
Zum Sozialindex nimmt Rösler vom Lehrerinnen- und Lehrerdachverband nicht konkret Stellung, ausser dass nicht alle Kantone ihn nutzen würden. Sie bestätigt jedoch, dass Schulen noch immer mit Personalmangel zu kämpfen hätten. Auch im Heilpädagogik- und Therapiebereich.
Rösler führt aus:
Den halben Tag Berichte schreiben
Wie Ex-Primarlehrerin Denzler ist auch Heilpädagogin Meier überzeugt, dass Ressourcen viel schneller und unkomplizierter gesprochen werden müssen. Extrem sei die Situation, wenn es wirklich eile. «Wenn ich merke, dass ein Kind sofort Hilfe braucht, dauert es fast eineinhalb Jahre, bis die Unterstützung bewilligt wird.»
Ob der Anstieg an Kindern mit Unterstützungsbedarf auch in den kommenden Jahren anhält? Entwicklungspädiater von Rhein hält sich mit einer Prognose zurück. Und verlässt sich lieber auf Daten. Er bleibt jedoch bei seiner Aussage: «Wir alle sollten die Kinder wieder mehr so annehmen, wie sie sind.»
*Name von der Redaktion geändert.
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